Guten Tag,

am Sonntag, den 20. Oktober 2022 war der Musiker, Schriftsteller und Journalist H.P. Daniels zu Gast auf dem zweiten Netzwerktreffen wohnungsloser Menschen im Naturfreundehaus in Hannover zu Gast.

Es war ein langer und unterhaltsamer Abend. H.P. spielte einige Songs und trug aus seinem Roman "Runaway" vor, und nach der Veranstaltung saßen wir noch lange zusammen und sprachen über vieles - vor allem über Musik.

hp daniels foto sylvie nelleJetzt hat H.P. darüber einen sehr langen, achtteiligen Text über seine Reise nach Hannover und den Auftritt im Naturfreundehaus geschrieben. Vielleicht wird der eine oder andere sich in diesem Text wieder erkennen.

H.P. hat mir erlaubt, diesen Text hier zu veröffentlchen und zu verbreiten. Vielen Dank!

In diesem Sinne frohe Feiertage und viel Spaß beim Leben.

Herzliche Grüße,

Stefan

PS: Mehr Informationen von und über H.P. Daniels findet ihr auf seiner Homepage https://hpdanielsblog.wordpress.com/

PS2: Wer Interesse am Roman hat, kann ihn bei Booklooker gebraucht für kleines Geld erwerben:

+++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++

Die letzte Reise

EINS

Gestern poppte plötzlich eine Nachricht auf, auf dem Smartphone:
Ihre letzte Reise: Hannover.
Ein bisschen unheimlich war das schon. Wo kam das her, und wie war das gemeint?
Prophetisch, symbolisch, metaphorisch?
Meine letzte Reise?
Nicht Himmel, nicht Hölle – Hannover.
Oder war die merkwürdige Botschaft historisch gemeint?
Meine Sing- und Lesereise, kürzlich nach Hannover, könnte meine letzte Sing- und Lesereise gewesen sein.
Last stop Hannover. Forever. Für immer. Keine Sing- und Lesetourneen mehr. In der Zukunft, no more.
Aus Altersgründen. Rust never sleeps. Und alles ist ja tatsächlich auch ein bisschen eingerostet in der letzten Zeit, Corona-Rost. Und alles wird anstrengender, und der ohnehin schon schwere Gitarrenkoffer wird auch immer schwerer. Das Reisen, die Bahnfahrten, inzwischen längst mit Seniorenrabatt. Und ich habe auch wirklich das Gefühl, immer senioriger zu werden, tüdeliger und wackeliger, die Corona-Jahre haben ein Loch in alles gerissen, über zwei Jahre lang keine Auftritte mehr, da kommt man aus der Übung, alles verlernt, die alten Routinen. Und plötzlich ist der alte Rocker wirklich ein alter Rocker, und etwas hilflos mit den rasanten Veränderungen einer sich rasant verändernden Welt. Und einem nachlassenden Gedächtnis, und sich verstärkenden Unsicherheiten, wie man alles geregelt bekommt.

Und irgendwann steht man dann am Bahnhof, im Strom der Menschen, unzähliger Menschen. Wollen die alle nach Hannover? Wie war noch mal die Nummer des Zuges? Strom der Zeit. Und ich unter Strom am Bahnhof.
Eine Ansage, die ich nicht verstehe, Ohren auch immer schlechter, für den ICE Nummer soundso nach Hannover. War das meiner? Wie war noch mal die Nummer meines Zuges? Ich schaue noch mal nach. Nein, das muss ein anderer Zug gewesen sein, aber ich hab die Ansage sowieso nicht verstanden. Verspätung? Gleiswechsel? Umstellung der Wagenreihung? Apropos Wagenreihung: In welchem Wagen war noch mal mein Sitzplatz? Warum tue ich mich so schwer mit dem Merken von Zahlen: Zugnummer. Abfahrtszeit. Platzreservierung in welchem Wagen. Sitzplatznummer. Immer muss ich noch mal nachschauen. Wagen Nummer 32. Platz Nummer 12. Jetzt muss ich mir das aber mal wirklich merken. Und ich muss mal schauen, auf welcher Buchstabenhöhe des Bahnsteigs mein Wagen dann sein wird.
"Wagenstandsanzeiger" heißt der Plan dafür. Alte Übung.

Also suche ich den Wagenstandsanzeiger. Neben den Fahrplänen ist kein Wagenstandsanzeiger, ich suche den ganzen Bahnsteig ab, nach einem Wagenstandsanzeiger, aber da ist kein Wagenstandsanzeiger, nirgendwo. Ich suche den ganzen Bahnsteig ab, von A-Z, nein bis Z geht der Bahnsteig nicht, nur bis G, aber das reicht schon, einmal hin und zurück, aber kein Wagenstandsanzeiger. Oder bin ich zu blöd? Offenbar bin ich ein etwas hilfloser älterer Herr, und frage jetzt einfach diesen rotbemützten Schaffner dort drüben. Heißen die Schaffner eigentlich noch Schaffner.
- Verzeihen Sie bitte, aber wo finde ich denn hier den Wagenstandsanzeiger für den Zug nach Hannover? Mist, welche Nummer hatte der denn jetzt noch mal?
- Ja, da gibt es drei Optionen, sagt der Schaffner: Entweder Sie schauen in Ihrer DB-App nach, oder Sie warten, bis der Zug auf den Anzeigentafeln angezeigt wird, oder Sie …
- Bahn-App hab ich, aber wo finde ich das da?
Die freundliche Rotmütze zeigt mir ein winziges Icon auf meinem Handy-Display:
- Hier. Klicken Sie da mal drauf!
- Ah ja, super, da kommt es ja, ganz deutlich: Wagen Nummer 32 auf Höhe D. Vielen Dank. Alleine hätte ich das nie gefunden … Danke.

Alle scheinen ihre Sitzplätze im Wagen 32 zu haben, bei D stehen sie schon in Dreiherreihen: Menschen. Menschen. Menschen. Gepäck. Gepäck. Gepäck. Nicht nur bei D, sondern von A-Z. Obwohl es Z gar nicht gibt.
"Sehr hohe Auslastung erwartet", hatte ich irgendwo gelesen. Fährt denn halb Berlin am Sonntagnachmittag nach Hannover?

Der Zug fährt ein. Hektische Bewegung kommt in die Dreiherreihen der Wartenden. Alle versuchen die Wagennummern der vorbeirauschenden Wagen zu erkennen, man kann sie nicht erkennen, der Zug ist noch zu schnell. Man kann sie allerdings auch nicht erkennen, als der Zug langsamer wird. Wenigstens eine Zahl würde man gerne erkennen, dass man mitzählen könnte: 29, 30, 31, 32 … Aber es kommen ganz andere Nummern vorbei, und an dem Wagen, der jetzt hier vor mir hält, bei D, steht gar keine Nummer, oder man kann sie nicht lesen, weil die Beleuchtung ausgefallen ist. Ein Teil der Wartenden stürmt nach vorne, Richtung A. Ein anderer stürmt nach hinten, Richtung G. Beide entgegen dem starken Strom, dem Starkstrom der Aussteigenden.

Jemand ruft aus der Tür, das sei hier der Wagen 32, es stünde innen dran: Wagen 32. Also nichts wie rein, im Strom mitströmen lassen – Moment, da will noch jemand aussteigen. Aber dann: Welchen Platz hatte ich jett noch mal? Ich muss schnell noch mal nachschauen, verdammt, mein schlechtes Zahlengedächtnis, ach ja: 12 natürlich. Ich schaue auf die Anzeigen, die roten Lichtanzeigen über den Sitzen, während es von hinten mächtig schiebt. Ich kann die Zahlen nicht erkennen, die Augen werden auch immer schlechter, und jetzt beschlägt die Brille auch noch über der Maske.

12? Ist das 12 hier? Nein, da ist noch eine Null dran: 120. Ich hab aber 12, verdammt, das muss ganz am anderen Ende des Wagens sein. Gibt es hier überhaupt eine 12, in diesem Wagen? Und jetzt kommt der Gegenstrom, von der anderen Seite, die Leute, die zu den 100er Nummern wollen. Und ich mit meiner sperrigen Gitarre auf dem Rücken, meiner sperrigen Jumbo Guild.

Warum tue ich mir das eigentlich noch an, mit 70? Bin jetzt bei 70 und habe noch ein ganzes Stück vor mir, und mache mir allmählich Sorgen, wie weit noch? Während sich die Gepäckablagen über den Sitzen bedrohlich füllen, und wohin dann mit der schweren, sperrigen Gitarre? Ah, da ist mein Platz, endlich, am Ende des Wagens, und rechts wäre gerade noch Platz auf der Gepäckablage für die Gitarre, wo gerade ein junger Mann auch eine Gitarre abgelegt hatte, aber daneben. Als ich meine Gitarre dort hochzuhieven versuchte, ruft's energisch von der Tür her:
- Halt, nein, bitte nicht … da muss meine Gitarre noch hin! Wir gehören zusammen!
Mist … noch eine Gitarre! Und die gehören auch noch zusammen.
Hannover scheint so etwas wie ein Gitarrenknotenpunkt zu sein.
Als ich das letzte Mal von Frankfurt kommend via Hannover nach Hause fuhr, standen dort beim Umsteigen noch drei weitere Gitarristen mit Gitarrenkoffern am Bahnsteig.
Mit schwerem Kofferrücken und Verschiebeaktionen freundlicher Mitreisender, gelang es mir, meine Gitarre schließlich doch noch unterzubringen, sowie auch mein kleines Rock 'n' Rollköfferchen.

Keine weiteren Vorkommnisse bis Hannover. Außer, dass in diesem speziellen "Ruhe"-Großraumwagen, in dem überall "Psst! Ruhebereich!" an den Wänden steht, ein Mann hinter mir plötzlich etwas in einer osteuropäischen Sprache in sein Handy brüllt und gar nicht mehr aufhört damit, bis Hannover.

Beim Aussteigen komme ich mit den beiden anderen Gitarristen ins Gespräch.
- Fahren Sie noch weiter?, fragt mich der eine.
Von anderen Gitarristen gesiezt zu werden ist ein ungutes Signal.
- Nein, ich bleibe in Hannover. Und ihr. Ich biete quasi das Du an, unter Gitarristen, obwohl ich sonst nicht so fürs duzen bin … seid ihr aus Hannover?
- Nein, aus Buxtehude …
Sie haben heute abend einen Auftritt in Hannover … wie ich.
- Wo denn?
- Bei Chez Heinz …
"Bei Chez Heinz" finde ich lustig, aber der Laden heißt offenbar tatsächlich so: "Bei Chez Heinz" … also müssten sie eigentlich sagen, dass sie bei Bei Chez Heinz auftreten … oder im Bei Chez Heinz? Und gestern waren sie in der UFA-Fabrik in Berlin.
- Kennen Sie die?
Sie bleiben beim Sie, und auch die Frage, ob ich die UFA-Fabrik kenne, passt dazu.
- Und was macht ihr so? Ich bleibe beim Du, versuche es noch mal, aber sie bleiben beim Sie.
- Wir machen so Comedy-Sachen, mit Liedern. Und Sie? Wo spielen Sie in Hannover? Und was machen Sie so?
Ich erkläre, dass ich im Naturfreundehaus auftrete, auf einer Konferenz Obdachloser. Und dass ich da aus meinem Roman "Runaway" lese und Songs meiner ehemaligen Rockband The Escalatorz spiele.
- Oh, das klingt interessant, aber da kommt der Zug schon zum Stehen, und eine Dreierreihe draußen in Bewegung, die Ströme, Strom und Gegenstrom, Wechselstrom. Und in der Bahnhofsdurchgangshalle von Hannover ein Wahnsinnsmenschengewirr, und immer das Gefühl, gegen den Strom laufen zu müssen, zur Straßenbahn, irgendwo noch eine Ebene tiefer, zur Straßenbahn, die hier erstmal noch U-Bahn ist.

ZWEI

Hannover. Alles strömte auf diesem Bahnhof. Reißende Menschenströme in alle Richtungen. Strom und Gegenstrom. Strudel. Auflauf. Treibend im Strom nach unten, mit der Gitarre auf dem Buckel, Rock 'n' Rollkoffer rollend oben, und runter zur U-Bahn, die irgendwann als Straßenbahn nach oben kommt, ans Licht, eine lange Straße, mit parallelen Wohnblocks links und rechts, Oberlicht, Oktoberlicht in Hannover.

Ich war nur einmal in Hannover bisher, ebenfalls zu einem Auftritt, lesen und singen. Es liegt über dreißig Jahre zurück, als ich gemeinsam mit der geschätzten Schriftstellerkollegin und Freundin Felicitas Hoppe Gast war in der "Fitz Oblong Show", dem Vorläufer aller deutschen "Lesebühnen", als es den Begriff noch gar nicht gab, und sich die Sache noch "literarisch-satirische Bühnenshow" nannte.
Während ich nun über dreißig Jahre später mit der Straßenbahn gewordenen U-Bahn durch Hannover gondle, denke ich zurück an diesen höchst vergnüglichen Abend, und die beiden inzwischen bedauerlicherweise gestorbenen Fitz-Oblong-Show-Gründer Dietrich zur Nedden und Michael Quasthoff. Sowie dessen überlebenden Bruder Thomas Quastoff, den späteren Grammy-Gewinner und weltberühmten Kammer-, Opern- und Jazzsänger.
Wir lasen unsere Geschichten, sangen unsere Lieder, hatten jede Menge Spaß, auch anschließend noch in einer lustigen After-Show-Kneipe, bei schweren Bechergetränken und famosen Gesprächen.
Da wir als Gäste kostensparend untergebracht werden mussten, hatte ich das Vergnügen im freien Zimmer einer Wohngemeinschaft zu nächtigen.
Beim Frühstück sprachen die andere Mitbewohnerin und ich über Gerhard Schröder, den damals noch relativ frisch amtierenden, niedersächsischen Ministerpräsidenten, in dessen Ministerpräsidenten-Büro die Mitbewohnerin arbeitete – als persönliche Referentin oder so was.
Schröder sei ein angenehmer Chef, überhaupt ein netter Mensch, erzählte sie. Und keiner von uns hatte damals geahnt, dass er mal Bundeskanzler werden könnte, und dann auch noch Gazpromi und Putins Erdgasgerd.
Durch einen Zufall erfuhr ich erst jetzt, dreißig Jahre später, dass jene Frau, die mir damals in Hannover Unterschlupf gewährt hatte, später Uwe-Karsten Heye geheiratet hat, damals Regierungssprecher der niedersächsischen Landesregierung, später Sprecher der Bundesregierung unter Gerhard Schröder …

Doch da ist ja schon die Straßenbahnhaltestelle, an der ich aussteigen muss, Spannhagengarten … was für ein Name … spannenlanger Hansel … und dann weiter dem Plan folgen, den man mir zugeschickt hatte: Vorbei an den Kleingärten, und an der Fußgängerampel die Straßenseite wechseln, und dann gleich rechts "einstechen".
Aber da ist nichts zum rechts Einstechen. Dann eben noch ein Stück weiter, aber auch da kommt nichts zum Einstechen. Vielleicht da vorne? Aber da kommt auch schon die nächste Straßenbahnhaltestelle, dann hätten sie doch die als Aussteigehaltestelle angegeben und nicht Spannenlangerhansel. Und nach Einstichstelle sieht dort auch nichts aus, eine Riesenkreuzung eher, nee, das ist falsch ...
Also wieder zurück, mit der schwer gebuckelten Gitarre und dem Rock 'n' Rollkoffer, zurück erstmal zum Spannhagengarten.
Nehmen mit zunehmendem Alter Orientierungssinn und Ortskunde ab?

Wenn ich meine Mutter in ihrem Auto chauffierte, an vertraute Orte in München, wo sie all die Jahre regelmäßig selber hingefahren war, vertraute Strecken, zum Einkaufen, zum Friedhof, zu Freundinnen, sagte sie als Beifahrerin plötzlich:
- Du musst hier aber rechts rum fahren …
Und ich sagte:
- Nein, ich muss hier links rum fahren, weil wir hier immer schon links rumgefahren sind, der Friedhof ist doch gleich hier links um die Ecke.
- Nein, du musst hier rechts fahren …
Und ich machte mir den etwas fiesen Spaß und bog rechts ab. So fuhren wir dann ein Stück, und ich sagte:
- Okay, und wie jetzt weiter?
Und meine Mutter:
- Weiter geradeaus, es ist noch ein Stück.
Wir fuhren noch ein Stück.
- Und jetzt?
Meine Mutter sah sich irritiert um, schaute nach links und nach rechts:
- Jetzt weiß ich auch nicht mehr, wo wir sind. Wo sind wir hier?
- Dann sollte ich vielleicht lieber wieder umdrehen …

Verdammter Orientierungssinn. Verdammte Wegbeschreibung. Wo sollte ich hin? Ich lief den ganzen Weg wieder zurück, bis Spannhagengarten.
Getting old is not for sissies!
Neuorientierung. Hermann-Bahlsen-Allee? Ach, hier ist das Ding. Hätten sie nicht schreiben können: Straßenbahn nach hinten aussteigen und entgegen der Fahrtrichtung erste Straße links einstechen, und das ist dann die Hermann-Bahlsen-Allee, und da geht es dann weiter. Und von da an stimmt es dann alles wieder: Fußgängerampel überqueren, rechts einstechen. Hermann Bahlsen. Ich denke an Leibniz-Kekse, steche ein und rolle wie Fitz Oblong und die Blechbüchsenarmee, rolle, rolle, rolle … ach, die Blechbüchsenarmee hatte ja gar nichts mit Fitz Oblong zu tun … und endlich bin ich da, hab's geschafft: Naturfreundejugendhaus … obwohl doch meine eigene Jugend nun schon ein Jahr vorbei ist.

hp daniels runawayDREI

Die Rezeption vom Naturfreundejugendhaus war sonntags nicht besetzt, die Türe verschlossen. 17 Uhr. Ich hatte noch Zeit, um 18 Uhr sollte ich zum Essen da sein.
Ich setzte mich auf die Bank unter dem Vorbau, genoss die Ruhe und dachte darüber nach, was mich hier erwartete? Wer mich erwartete? Und ob mich überhaupt jemand erwartete? Und was dann erwartet wurde von mir?
Lesung und Konzert, hatte es geheißen, in der Vorankündigung. Die übliche Vorankündigung zu einer unüblichen Veranstaltung.
Eingeladen von der "Obdachlosen Stiftung" als "kultureller Abschluss" eines dreitägigen "Netzwerktreffens wohnungsloser Menschen in Deutschland". Der Veranstalter hatte sich offenbar zurückerinnert an Lesungen und Konzerte, die ich vor Jahrzehnten in Berliner Wärmestuben für Obdachlose gehalten hatte.
Was erwartet mich heute? Dreißig Wohnungslose aus ganz Deutschland, hatte es geheißen. Und eventuell kämen auch noch ein paar Streetkids aus Hannover dazu.
Das wird sicher etwas anderes als die Fitz-Oblong-Show.

Ein junger Mann kam raus, hinten vom Garten aus. Ist er einer von den Streetkids?
Er sagte nichts. Erst als ich Hi! sagte, sagte er auch Hi!
Ein dunkelhäutiger Junge mit schwarzen Locken, wie Phil Lynott von Thin Lizzy. Er sagte nichts weiter, zündete sich eine Zigarette an, rauchte schweigend und ging wieder rein, hinten durch den Garten.

Da wollte ich es dann auch versuchen: von hinten durch den Garten. Es ging durch zwei kleine Essräume zu einer Saaltüre, die offen stand. Da war der Obdachlosenkongress noch voll im Gange, es wurde diskutiert. Ich wollte nicht stören, stellte Gitarre und Rock 'n' Rollkoffer ab, setzte mich, wartete.
Da kam eine junge Frau, die mich offenbar vom Saal aus gesehen hatte: Ich solle ruhig reinkommen, S. erwarte mich schon. Sehr nett, sehr freundlich, aber ich wollte wirklich nicht stören.
- Komm doch einfach rein, sagte S., wir freuen uns, dass du da bist. Wir arbeiten noch. Such dir einen Stuhl und hör ein bisschen zu, wenn du Lust hast.
Ich suchte einen Stuhl, setzte mich. Und hörte zu.

Die anderen saßen im Raum verstreut, wie hingeflattertes Herbstlaub. Und immer wieder flatterte jemand auf, flatterte jemand raus oder flatterte jemand rein. Phil Lynott hatte sich gerade wieder hingesetzt, an eine äußere Ecke des Raumes, während in der Mitte schon wieder einer aufflatterte, ein Langhaariger mit auffälligen Tätowierungen am Hals und auf der Stirn, die ich erst für eine Stirnlocke gehalten hatte. Er ging an mir vorbei, schaute mich an, freundlich, und sagte:
- Servus!
Ein Bayer.

Ich schaute mir die Leute an, wie sie da saßen und flatterten, oder ganz ruhig waren. Sie saßen merkwürdig verteilt in diesem großen Saal. Mit Abstand voneinander die meisten, einzelgängerisch, keine Gruppen, nur ein paar Frauen saßen etwas dichter zusammen.
Die Männer hatten fast alle lange Haare und Bärte, wirkten wie alte Hippies, Altlinke, übrig geblieben von 1968, doch vermutlich waren sie alle jünger als sie aussahen.

Links neben mir saß Bob Hite von Canned Heat: The Bear. Groß und breit und ziemlich dick, Bob Hite eben, The Baer. Ein Bär von einem Mann, der sich plötzlich langsam hochwuchtete aus seinem Stuhl, und auf zwei Krücken an mir vorbei schlurfte, die Stufen rauf zum Ausgang, als es plötzlich knallte hinter mir. Bob Hite, The Bear, hatte ein seiner Krücken verloren. Ich sprang auf und reichte sie ihm nach oben. Er bedankte sich, mit tiefbrummiger Bärenbluesstimme.
John Mayalls LP "Blues From Laurel Canyon" fiel mir ein: I've been living with a bear in a big house full of blues … da hatte er Bob Hite von Canned Heat besungen.

Diese Menschen hier hatten den Blues, den Outlaw Blues, den Loneliness Blues, den Homeless Blues … das sah man ihnen an, und trotzdem waren sie auffallend freundlich und zugewandt.

Mitten im Raum, rittlings auf einem umgedrehten Stuhl, die Arme vorne auf die Rückenlehne gestützt, eine weitere Althippietype. Mit einem roten Stirnband in den langen Haaren und einem stark gegerbten, und doch auch weichen, fast kindlichem Gesicht, und warmen gutmütigen Augen.
Er trug ein übergroßes schwarzes T-Shirt, mit einem roten Aufdruck auf der Vorderseite: "KRZBG" oder so was. Und irgendwas mit "FCK Capitalism" oder so was in der Art.
Der Typ kam mir vage bekannt vor, als wäre ich ihm schon mal begegnet.
Über dem riesigen T-Shirt, trug er einen Gürtel, an dem vor seinem Bauch eine Unmenge verschiedenster Schlüssel baumelte.
Auch er stand mal auf, lief herum, holte sich etwas zu trinken, eine kleine Plastikflasche – es gab Wasser, Cola, Limonade, Kaffee – er lächelte mich freundlich an, während er an mir vorbei ging, und die Anderen debattierten, über eine Erklärung, die sie offenbar erarbeitet hatten in den letzten drei Tagen, zu ihrer Situation als Obdachlose, und ihre Forderungen an die Politik und die Öffentlichkeit, zur Linderung ihrer Situation.
Und was unbedingt noch aufgenommen werden müsse in das Papier, sagte eine Frau, mit ausrasiertem Kopf an beiden Seiten, irokesenartig – sie formulierte ausgesprochen eloquent, intellektuell, gebildet, druckreif: Was für obdachlose Frauen besonders wichtig sei, für die, die auf der Straße lebten – lebte diese intelligent formulierende Frau auf der Straße? – obdachlose Frauen müssten Zugang zu einer Waschgelegenheit haben, zu jeder Zeit, den ganzen Tag, und nicht nur zu bestimmten Zeiten. Denn Frauen menstruieren, und wenn sie das täten, täten sie das auch den ganzen Tag, und nicht nur zu festgelegten Zeiten.
Der erarbeitete Text wurde per Beamer an die Wand projiziert. S., der mich eingeladen hatte, Veranstalter, Versammlungsleiter, las den Text laut vor und wurde dabei immer wieder unterbrochen, mit Anregungen, Umformulierungen, ausgesprochen guten Ideen, nicht nur inhaltlich, sondern auch zu Sprache und Form. Aus einem Satz lieber zwei zu machen, weil die Aussage dann besser verständlich wäre, prägnanter. Ich staunte.

Eine andere Frau weist auf kleine orthographische und grammatikalische Fehler hin. Sie sei da vielleicht etwaspingelig, aber korrekte Sprache sei ihr immer schon eine Herzensangelegenheit gewesen, da lege sie großen Wert drauf.

Am Ende stehen die Namen aller Beteiligten auf dem Papier.
Phil Lynott protestiert. Sein Name sei falsch geschrieben: man schreibe ihn mit Y und zwei T. Laut und selbstbewusst sagt er das.
- Okay, wird korrigiert! Und jetzt gibt es Essen. Und um halb acht treffen wir uns wieder hier im Saal, zu Musik und Lesung mit H.P. Daniels …

Aber würde sie das überhaupt interessieren? Obdachlose, die doch bestimmt ganz andere Sorgen hätten?

VIER

- Wo ist die Band, fragt jemand beim Abendessen.
- Er ist die Band, sagt jemand anderes und deutet auf mich.
- Er?
Was ich denn so für Musik mache, werde ich gefragt, von einem der älteren Wohnungslosen, einem gepflegten Mann mit kurzen Haaren und holländischem Akzent, der sich später als irischer Akzent erweist. Offenbar stammt der Mann aus Dublin, wie ich später erfahre, und dass er dort um 1962/63 herum die Rolling Stones gesehen hätte.
Ob ich Neil Young kenne, fragt er mich.

Der mit dem roten Stirnband, dem KRZBG-T-Shirt, den Schlüsseln vorm Bauch und dem freundlichen Gesicht spricht mich an:
- Irgendwoher kenne ich dich …
Er zählt sämtliche Adressen ehemals besetzter Berliner Häuser der 70er und 80er Jahre auf, ob er mich von dort kenne?
- Forster Straße vielleicht?
- Nee.
Aus anderen Sponti- und Anarchozusammenhängen möglicherweise? Nicht, dass ich wüsste, aber mir kam der Typ auch bekannt vor, nur woher?
Wir sprachen über Obdachlosigkeit. Was wusste ich schon davon?

Der stirnbändige Kreuzberger schimpfte auf den Kapitalismus, der sei doch das Grundübel. Der Kapitalismus sei doch verantwortlich für die ganze Unmenschlichkeit, Ungerechtigkeit, Gewalt und Brutalität in der Welt. Dass jeder gegen jeden kämpfe, dass es keine Brüderlichkeit und Solidarität mehr gebe unter den Menschen. Und übrigens, man solle doch bitte nicht von Obdachlosigkeit sprechen, das sei ein Begriff aus der Nazizeit, wo doch die Obdachlosen die ersten gewesen seien, die die Nazis ins KZ gesteckt haben und umgebracht hätten. "Wohnungslosigkeit" sei der passendere Begriff.

- Nee, ich sage immer noch, ich bin Obdachloser, sagt der ruhige dünne Mann, der die ganze Zeit dabeigestanden hatte. Er trägt seine grauen Haare zu einem langen Pferdeschwanz gebunden, der ihm weit über den Rücken fällt, und einen nicht minder langen grauen Bart, der mich an den Frankfurter Verleger Klaus Schöffling erinnert, ein Bart runter bis zum Bauch.
- Nö, sagt der in ganz ruhigen hamburgischen Ton, ich bezeichne mich als Obdachlosen, und dabei bleib ich auch.
Der freundliche Stirnbandkreuzberger raunzt ihn heftig an:
Er lasse sich nicht unterbrechen, von ihm, dem Hamburger …
- Ich hab dich gar nicht unterbrochen, sagt der Hamburger ganz ruhig, ich hab nur was dazu gesagt, nämlich dass ich mich als Obdachlosen bezeichne und nicht als Wohnungslosen …
Ich versuche zu schlichten, abzulenken … der Streit verpufft.

Später ist mehr Ordnung im Raum, nach dem Abendessen.
Für meinen Auftritt stand da jetzt ein Tisch mit Leselampe. Und davor die Stühle in geordneten Reihen.
- Wieso das denn jetzt?, fragt der Berliner Wohnungslosen-Anarcho, man kann sich doch hinsetzen im Raum, wo man will, was soll denn diese autoritäre Zwangsordnung?
- Ach, Alex, sagt S.
Alex? Jetzt hab ich's …
- Spielt der auch Schach, frage ich S.
- Ja, auch …
- Alex? Ich rufe ihm zu, quer durch den Raum: Jetzt weiß ich, woher wir uns kennen … Dein Name, Alex, und dass du Schach spielst, haben mich drauf gebracht: Wir kennen uns von vor etwa dreißig Jahren aus einem Berliner Autorenverein, wo wir uns gegenseitig unsere Geschichten vorgelesen und darüber debattiert haben. Du hast damals einen längeren Text über deine Zeit im Knast vorgelesen …
- Ja, genau, da war ich über zwei Jahre drin, weil ich diese linksradikale Zeitung gemacht habe …
- Ja, Alex, und erinnerst du dich noch an Felicitas Hoppe? Sie war auch dabei, wir haben uns öfter gemeinsam mit dir unterhalten, weiß du noch? Inzwischen ist Felicitas ja ziemlich bekannt geworden als Schriftstellerin, Büchner-Preisträgerin und so was. Erinnerst du dich noch an sie?
- Natürlich erinnere ich mich noch an sie. Und weißt du, warum? Weil sie die Einzige war, die etwas Menschliches hatte, in diesem ganzen Verein. Solche Menschen werden immer seltner, und deswegen erinnert man sich an sie. Ja, Felicitas Hoppe … natürlich.

- Weißt du, was witzig ist? sage ich zu Alex, dem Stirnbandanarcho: Ich war bisher nur einmal in Hannover, und das war vor etwa dreißig Jahren, als ich hier mit Felicitas Hoppe in der Fitz-Oblong-Show aufgetreten bin, und das war ungefähr zur selben Zeit, als wir dich in Berlin in diesem Autorenverein kannten. Ist das nicht irre?
- Ja, irre …

FÜNF

Zum Beginn meines Auftritts spielte ich ein paar Songs: Everybody Needs Somebody To Love, Pain In My Heart, Back On My Feet Again …
Einige wippten in ihren Stühlen, schien ihnen zu gefallen.
Ich las den Anfang meines Romans "Runaway". Es war ganz still. Und niemand lief durch den Raum oder wehte herum wie das Herbstlaub draußen … oder ging raus. Es war unglaublich ruhig plötzlich. Phil Lynott war nicht dabei.

Nach einer Dreiviertelstunde machte ich eine Pause. Rauchpause für die anderen. Ich hörte den anfänglichen Holländer, der inzwischen zum Dubliner geworden war, wie er jemand anderem erklärte:
- Die Stelle im Roman, wo er Hey, hey, you, you get off of my cloud sagt … das ist ein Zitat aus einem Song der Rolling Stones …
Spaßeshalber spiele ich schnell noch eine Strophe und einen Refrain von Get Off Of My Cloud, aber der holländische Ire hört es nicht mehr auf dem Weg nach draußen, auf dem Weg zum Rauchen.

Ob man das Buch auch kaufen könne, fragt eine der Frauen, und was es denn koste?
- Zwanzig Euro, sage ich, aber ich gäbe es ihr auch für fünfzehn.
Ich wäre mir schäbig vorgekommen, an einer Obdachlosen etwas zu verdienen.
Aber sie bestand darauf und legte mir einen Zehner, einen Fünfer und fünf einzelne Euro-Münzen auf den Tisch … und ob ich's ihr signieren würde?
Ich frage sie nach ihrem Namen-
- Manja.
- M-A-N-J-A?
Ja, und ich sei der erste, der ihren Namen auf Anhieb richtig buchstabieren könne.
Ich sage, ich kenne ja auch Manja Präkels. Ob sie von der schon mal was gehört habe?
- Nein. Wer ist das?
Ich erzähle ihr, dass ich schwer beeindruckt war von Manja Präkels' Roman "Als ich mit Hitler Schnapskirschen aß".
Und ich gab schnell eine kurze Zusammenfassung der traurigen Geschichte einer innigen Kinderfreundschaft zu DDR-Zeiten, aus der nach der Wende schließlich unüberbrückbare, unversöhnliche Gegensätze entstehen, als der ehemalige beste Freund zum brutalen Nazischläger wird.
- Ah, ich hab's schon gefunden, sagt Manja, ich meine Manja Präkels und ihr Buch "Als ich mit Hitler Schnapskirschen aß".
Sie hatte es schnell gegoogelt und sagte, das werde sie dann als nächstes nach meinem Roman lesen, wenn ich das so empfehle …

Wieder spielte ich ein paar Songs, um mein Publikum zurück in den Saal zu locken, und sie kamen auch alle wieder.
- Spielst du auch was von Ton Steine Scherben?, fragte Anarcho-Alex.
- Nein.
Und ob ich Sugar Mountain spielen könne?, fragt der Holland-Ire.
- Nein, auch nicht.
- Das ist von Neil Young, sagt er.
- Ich weiß, sage ich.

Ich spielte ein paar meiner eigenen Songs und las ein paar weitere Kapitel aus dem Roman. Und wieder war es angenehm ruhig und still. Schien sie zu interessieren. Schien ihnen zu gefallen.
Anschließend entwickelte sich ein kleines Gespräch. Und, ob ich das alles selbst erlebt hätte?
- Das ist Zeitgeschichte, sagt Anarcho-Alex, und dass der Kapitalismus …
Eine der Frauen unterbricht ihn:
- Bah, wenn ich das schon höre: Kapitalismus! … Du immer mit deinem Kapitalismus … immer kommst du mit deinem Kapitalismus … da bekomme ich schon gleich wieder son Hals! Der Kapitalismus … der Kapitalismus … Mensch, hör doch auf damit!
- Aber ist doch wahr, sagt Alex ganz sanft, stimmt doch …
Dann wechselt das Thema ganz plötzlich vom Kapitalismus zu Musik. Aber da könne er nicht mehr mitreden, sagt Alex, er kennt nur Ton Steine Scherben.

Ich spiele noch ein paar Songs zum Abschluss, dann scheinen alle zufrieden zu sein und gehen ins Bett.

SECHS

- Servus, sagt der Bayer am nächsten Tag wieder. Und dass es toll gewesen sei am Vorabend. Und dass man doch sehr deutlich merke, wie viel Herzblut da drinstecke, in meinem Roman und in der Musik …
- Und deswegen ist es auch so gut, sagt Bob Hite, der Bär mit den Krücken, Bob Hite von Canned Heat. Es sei so gut, weil es echt sei, und ehrlich und wahr …
Wow! Was für ein Kompliment.
Und genau deswegen komme auch seine Obdachlosentheatergruppe, in der er mitspielt, immer so gut an: Weil sie alle echt sind und authentisch, weil sie sich nicht verstellen, und sie immer sie selber seien, sie sich in den Stücken immer selber spielten.
Bob Hite, der Bär, kommt aus Bielefeld. Und er erzählt noch ein bisschen von seiner Theatergruppe, und wie viel Spaß es mache, dort mitzuspielen.
Bob Hite wünschte mir viel Glück. Und ich wünschte ihm viel Glück. Dann stocherte er davon mit seinen Krücken.

Eine Frau kam auf mich zu, bedankte sich für "den schönen Abend gestern". Und ob ich schon mal dran gedacht hätte, ein Hörbuch zu machen? Und dass sie lieber Hörbücher hört als Lesebücher zu lesen. Und dass sie fand, dass ich "so toll" lesen würde. Und dass sie sich alles so gut habe vorstellen können, alles so plastisch. Wie ein Film sei das abgelaufen bei ihr …

Allmählich brachen sie alle auf, die Obdachlosen, die Wohnungslosen: zurück nach Berlin, nach Bielefeld, nach Bayern und Bad Salzuflen. Und der nette Mann aus Mannheim hatte mir auch noch schnell gesagt, wie gut ihm mein Programm gefallen habe. Und dass er einen Veranstalter in Frankfurt kenne, den er mal fragen könne …
- Ja, toll … vielen Dank!
Dann hat er seinen Rucksack geschultert und ist los zum Bahnhof. Er sei immer gerne früh da, sagte er noch, und schon war er weg.

Wo werden sie alle schlafen in den nächsten Nächten, Wochen, Monaten … und wenn es irgendwann auch kalt wird? Während ich jetzt meiner Wohnung entgegenfahre, meinem Obdach, meinem Zuhause.
Für sie alle war das vielleicht ein erholsamer Luxus, die letzten drei Tage, hier im Naturfreundehaus. Mit Toiletten und Duschen auf dem Flur, besser als "zuhause", draußen auf der Straße … während es für mich eher Jugendherberge war, mit Toiletten und Duschen auf dem Flur, und Betten selbst beziehen, und wieder abziehen, und Bettwäsche in den Keller bringen am Abreisemorgen. Abreise 9 Uhr.

An der Straßenbahnhaltestelle treffe ich den dünnen Hamburger wieder, mit dem langen Pferdeschwanz und dem langen Bart. Der auch Gelehrter sein könnte, Professor, Schriftsteller, Künstler, Verleger, wie Klaus Schöffling. Vielleicht war er ja auch sowas, Künstler oder so was, denn Obdachlosigkeit ist ja kein Beruf.
Am Vorabend hatte er mir noch erzählt, dass er lange Zeit Workshops gegeben hätte, an einer Hamburger Musikschule, Trommelkurse … obwohl er obdachlos war.
- Das geht auch, sagte er, die Obdachlosigkeit schließt das nicht aus. Dass man konzentriert einer Arbeit nachgeht. Hier auf diesem Obdachlosentreffen seien ihm viele allerdings zu unkonzentriert gewesen. Zu flatterig.
- Wie das Laub hier auf der Straße, sagte ich, das flatterige.
Er lachte.
Er stand am Fahrscheinautomaten der Straßenbahn, drückte verschiedene Tasten, konzentriert, aber auch ein bisschen ratlos. Er habe nur noch einen 50-Euro-Schein, sagt er, aber den nimmt dieser Automat nicht. Er werde jetzt erstmal da rüber gehen, zu dem Laden da, um den 50er zu wechseln.
- Es tut mir leid, sage ich, aber ich kann auch keinen 50er wechseln.
- Ja, sagt er, manche Antworten möchte man gar nicht hören. Auf Fragen, die man nicht gestellt hat. Und klingt dabei ein bisschen wie ein Songtext von Bob Dylan.
Die Straßenbahn kommt, ich steige ein. Er steht draußen, wünscht mir alles Gute. Wünsche ich ihm auch und schäme mich ein bisschen.

SIEBEN

Auf dem Bahnhof wieder die Ströme. Menschenströme und Unsicherheiten.
Welche Zugnummer?
Welche Abfahrtszeit?
Welches Gleis?
Welcher Wagen?
Welche Sitzplatznummer?
Welcher Abschnitt vom Bahnsteig?

Der Zug hat dreißig Minuten Verspätung.
Ich bin dreißig Minuten vor planmäßiger Abfahrt da.
Also eine Stunde warten.
"Für dadurch entstandene Unannehmlichkeiten bitten wir um Entschuldigung", sagt der Lautsprecher.
Das ist neu. Und das ist mal eine Verbesserung.
Früher hatte der Lautsprecher immer gesagt:
"Wir bitten um ihr Verständnis!"
Warum sollte man "Verständnis" haben? Für eine Verspätung?

Am Bahnsteig stehen die Wartenden schon wieder in Dreierreihen. Und immer mehr Menschen kommen noch die Treppe hoch.
Da ist ein Junge mit einem blauen Anorak, aber ohne Gepäck. Er könnte um die zwanzig sein.
Er bleibt stehen, schaut sich um. Dann schaut er zu Boden, und geht auf die Stelle zu, wo drei tellergroße Löcher in der Betondecke des Bahnsteigs sind. Dreckige Erde, schmutziger Sand, kleine Steinchen.
Der Junge mit dem blauen Anorak beugt sich runter, geht in die Knie, und wischt mit der rechten Hand durch den Sand, durch den Dreck, nimmt einige von den kleinen Steinchen in die Finger und lässt sie wieder fallen. Noch einmal wischt er durch den Sand, die Hand geformt wie eine Schaufel, von rechts nach links. Und behält das Geschaufelte in der geschlossenen Hand. Ganz unauffällig. Er geht nach vorne an die Bahnsteigkante, schlängelt sich durch die Dreierreihe, bleibt stehen, hält die Hand über das Gleis und lässt Staub und Sand runterrieseln.
Nun macht er kehrt und geht zu den Schaukästen mit den Fahrplänen. Plötzlich beugt er sich wieder runter, hebt etwas vom Boden auf, ein hütchenartiges schwarzes Plastikding, schnapsglasgroß.
Der Junge mit dem blauen Anorak betrachtet das Plastikding, dreht es zwischen den Fingern, wendet es, und beugt sich wieder runter auf den Boden, und stülpt das Plastikding über einen der hervorstehenden silbernen Schraubenköpfe der Fahrplahnschaukastenbefestigung, und tritt es fest mit dem Fuß. Die Dinger gehören dort tatsächlich hin. Ein paar sind noch drauf, ein paar fehlen.
Dann sah ich den Jungen mit dem blauen Anorak nicht mehr.

Ich schaue auf die elektronische Anzeigentafel: Drei Züge nach Berlin. Einer über Stendal. Die anderen über Wolfsburg.
Welches war jetzt noch mal meine Zugnummer? Wann die genaue Abfahrtszeit, die fahrplanmäßge? Und da noch 30 Minuten drauf rechnen. Alle Züge haben Verspätung. Immer noch muss ich fast eine Stunde warten. Im Gewühl.

Von hinten spricht mich ein junger Mann an.
- Guten Morgen. Entschuldigen Sie: darf ich Sie mal was fragen?
Der junge Mann interessierte sich für meine Gitarre: Was ich da für eine Gitarre in dem Koffer hätte? Und was für eine Art von Musik ich spiele?
Er spiele auch Gitarre, erzählte er.
- Eigentlich elektrisch. Eigentlich Heavy Metal. Aber neuerdings habe er auch andere Musikstile entdeckt, die ihm gefallen. Klassische Musik, aber auch lateinamerikanische, das vor allem: Bossa Nova gefalle ihm sehr, und dass er sowas jetzt mit Begeisterung übe.
- Und manchmal auch so Jazz-Sachen. Wie Baden Powell. Das fände er ganz toll.

Ein Zug fährt ein auf dem gegenüberliegenden Gleis.
- Das ist meiner, sagt der junge Heavy-Metal-Klassik-Jazz- Bossa-Nova-Gitarrist.
- Fahren Sie auch nach Bielefeld?
- Nein, nach Berlin.
- Oh, schade, ich unterhalte mich immer gerne mit anderen Gitarristen …
Und schon war er verschwunden.

ACHT

Ich schaue auf die elektronische Anzeigentafel. Wie war noch mal meine Zugnummer? Meine genaue Abfahrtszeit? Da muss ich wegen der Verspätung 30 Minuten dazurechnen.
Oh, der Zug fährt jetzt vom Gleis 10, nicht mehr von Gleis 9.
- Der Zug fährt "aus" Gleis 10, heißt es in der komischen Bahnsprache.
Ist das überhaupt mein Zug: ICE 1545? Ich schaue vorsichtshalber noch mal nach. Ja, ist er. Also gegenüberliegende Bahnsteigseite, von wo aus vorher auch schon der Heavy-Metal-Bossa-Gitarrist nach Bielefeld gefahren ist.

Und was ist jetzt mit dem Wagenstandsanzeiger? Welchen Wagen hatte ich noch mal? Wagen 22? 32? Ich schaue noch mal nach: 22. Aber gilt die Position des Wagens noch genauso wie auf der anderen Seite? Auf dem Smartphone wird jetzt nichts mehr angezeigt, keine Wagenposition. Aber den Zug gibt es noch: ICE 1545. Auf der Anzeigentafel heißt es jetzt, die Wagenreihung habe sich geändert. Die Nummern sowieso bis sowieso befinden sich jetzt bei den Abschnitten soundso bis soundso. Bewegung kommt in die Wartenden. Plötzlich strömt und rückt und rollt ein Pulk nach rechts. Muss ich mitrucken und rollen? Jetzt auch nach rechts? Nein, da mach ich nicht mit, bei dieser plötzlichen Panik, dem Rechtsruck, bleibe stehen, stoisch auf meinem Standpunkt. Eher links.

Wie war noch mal meine Zugnummer? Und die fahrplanmäßige Abfahrtszeit, hat sich ja alles verschoben jetzt. Ach, das war gar nicht mein Zug, das war der andere nach Berlin, der frühere, der auch Verspätung hat. Ich schaue noch mal aufs Handy: Da gibt es jetzt wieder einen Wagenstandsanzeiger. Ich stehe genau richtig, genau dort, wo der Wagen hält, mit einer halben Stunde Verspätung und einer Wartezeit von einer Stunde.
Wie war noch mal meine Sitzplatznummer? 75. Nicht weit vom Einstieg. Und da ist ja auch gerade noch ein Platz auf der Gepäckablage für die Gitarre.
"Einchecken" per Handy.

Der "Ruhewagen" mit "Psst! Ruhewagen!" ist voller kleiner Kinder, schnatternd und quietschend. Aber schnatternd quietschende Kinder sind ja auch was Schönes. Besser jedenfalls als gestandene Männer, die im Ruheabteil volle Pulle Osteuropäisches in ihre Handys brüllen. Oder Westasiatisches. Oder Sächsisches. Oder was weiß ich …

Ein kleines, vielleicht fünfjähriges Mädchen dreht sich in seinem Sitz um und ruft durch den Gang:
- Mama, komm doch bitte wieder zurück!
Während die Mutter weiter hinten mit dem Verstauen des Kinderwagens beschäftigt ist …
Und etwas wehmütig denke ich an die Zeit, als mein Sohn noch so klein, schnatternd und quietschend war.

Der Schaffner begrüßt die neu Zugestiegenen im ICE 1545 auf der Fahrt nach Berlin. Wieso eigentlich "neu"? Gibt es auch alt Zugestiegene? Würde nicht "Zugestiegene" alleine ausreichen? Überhaupt: Zugestiegene. Was für ein blödes Wort.
Der Schaffner sagt auch, dass es heute eine kleine Besonderheit gebe, einen Extraservice: Die Lautsprecheransagen mache nämlich heute der zwölfjährige Robert, an den er jetzt auch gleich das Mikro übergebe:
- Wir begrüßen unsere neu zugestiegenen Fahrgäste im ICE 1545 auf dem Weg nach Berlin-Ostbahnhof, über Braunschweig, Spandau, Berlin-Hauptbahnhof. Zur Zeit haben wir eine Verspätung von etwa 30 Minuten. Die Anschlusszüge werden leider nicht mehr erreicht. Der Speisewagen befindet sich in der Mitte des Zuges. Wir würden uns freuen, Sie dort begrüßen zu dürfen. Wir bitten Sie, während der Fahrt eine FFP2-Maske zu tragen und wünschen Ihnen eine angenehme Fahrt. Nächster fahrplanmäßiger Halt ist Braunschweig.
Robert rattert das routiniert runter. Die perfekte Imitation einer Zugbegleiterin. Man möchte dem zwölfjährigen Robert gratulieren dafür, für sein schauspielerisches Talent.
Irgendwann ist Robert wieder am Mikro:
- Liebe Fahrgäste, in wenigen Minuten erreichen wir Wolfsburg. Und er rattert die Anschlusszüge runter, die leider nicht mehr erreicht werden können, und die möglichen Alternativen dazu.
Ich schaue auf die riesigen Gebäude gegenüber dem Bahnhof, mit riesigem VW-Emblem.

Wolfsburg, die merkwürdige Stadt, die 1938 von Adolf Hitler gegründet wurde: "Stadt des KdF-Wagens".
Seltsame Stadt, künstlich von den Nazis aus dem Boden gestampft, zur Fabrikation des Volkswagens, eines erschwinglichen Autos "für alle". Das dann aber doch erstmal der Wehrmacht vorbehalten war. Alle privaten Interessenten konnten an einem Sparmodell teilnehmen, durch regelmäßige Einzahlungen für einen Volkswagen ansparen. Geld, um das die VW-Sparer schließlich betrogen wurden.

Ich dachte an den feldgrauen VW meines Großvaters in den 50er Jahren, mit dem er als Landarzt seine Runden über die Dörfer gedreht hat.
- Vati fährt über Land, hatte es dann geheißen.
Und ich dachte an mein erstes eigenes Auto, einen VW-Käfer, Baujahr 1958. Das erste Modell mit großer Heckscheibe.
Braunschweig, komische Stadt. Und ich dachte auch daran, dass ein Berliner Bekannter jeden Morgen von Berlin nach Braunschweig zur Arbeit fährt, natürlich bei VW, und abends wieder zurück. Und ich fragte mich, ob sein Büro in einem dieser VW-Verwaltungskästen gleich hier neben dem Bahnhof ist?

Dann keine weiteren Fragen, keine erwähnenswerten Vorkommnisse oder Gedanken auf dem Rest der Strecke. Außer, dass draußen nichts mehr zu sehen war. Nur dichte, undurchsichtige Nebelbrühe an diesem 30. Oktober 2022.
Später noch mal der zwölfjährige Robert:
- In wenigen Minuten erreichen wir Berlin-Hauptbahnhof.
Ich rolle heim.
--------------
H.P. Daniels, Berlin 2022

Solidarische Hinweise